Tempelinsel Philae
Die "heilige Tempelinsel" der Isis von Philae (antik: Pi-lak) wurde von den Reisenden des 19. Jahrhunderts als ein Juwel des Alten Ägypten bewundert. Hier war, zusammengedrängt auf eine 140 x 460m große Granitinsel, eine ganze Tempelstadt des ptolemäischen und römischen Ägypten nahezu unversehrt erhalten. Der dichte Bewuchs von Palmen und anderen tropischen Pflanzen, die Kulisse der Nachbarinsel und die wilden Felsen des gegenüberliegenden Ufers trugen zur exotisch-romantischen Atmosphäre des Ortes bei, die in zahllosen Gemälden und frühen Fotografien festgehalten wurde. Diese einzigartige Stätte wurde dennoch 1912 und 1934 dem Profitdenken des Fortschritts geopfert und ohne nennenswerte archäologische Aufnahme im Stausee von Assuan versenkt.
Reisende der nachfolgenden Zeit kennen
das alte Philae daher nur als aus dem Wasser herausragende Pylon- und Tempeldächer. Als schließlich 1960 der neue, erst oberhalb der Insel entstehende Stausee keineswegs eine Befreiung der Tempelinsel brachte, sondern die Existenz der Architektur selbst bedrohte, entschloss man sich zur Verlegung der wichtigsten Tempelteile auf die benachbarte, höher gelegene Insel Agilkia. Dort lässt seit 10.3.1980 die Rekonstruktion aus alten Blöcken die ursprüngliche Wirkung der Anlage wenigstens erahnen. Während vom Alten bis Neuen Reich Elephantine Ägyptens Tor
zum Süden gebildet hatte, verschob sich ab der Ptolemäerzeit dieser Schwerpunkt nach Philae. Zweifellos stand diese Entwicklung im Zeichen des um diese Zeit aufblühenden Kultes der Göttin Isis. Der älteste heute aufrecht stehende Bauteil auf Philae stammt erst aus der Zeit Nektanebos' I. Der Abbau der Tempel und Grabungen in den Fundamenten erbrachten Hinweise auf ein Tor des Taharqa. 300 wiederbenutzte Blöcke eines kleinen Tempels des Amasis, unter dem Hypostyl die Umrisse eines kleinen, älteren Vorgängerbaues sowie die Reste eines kleinen Kiosks Psammetichs II. Damals hieß Philae möglicherweise Takompso und war ursprünglich ein Heiligtum des Amun-Re. Das älteste Vorkommen des Namens Isis ist erst mit der 26. Dynastie belegt. Doch erst Nektanebos I. scheint dann ein Gesamtkonzept entwickelt zu haben, mit einer Aufgangstreppe an der Südspitze und einer Barkenstation hoch über dem Nil: ein kleiner, eleganter 14-Säulen-Portikus mit interessanten Kombinationen von Komposit- und Sistrum-Kapitell-Säulen. Er wurde in der Zeit Ptolemäus' VIII. Euergetes' II. mit zwei Obelisken ausgestattet. Der eine wurde, neben dem Rosetta-Stein, durch die hieroglyphische wie griechische Schreibung der Königsnamen Ptolemäus und Kleopatra IV. für die Entzifferung der Hieroglyphenschrift durch Champollion bekannt. Zum Plan Nektanebos' I. gehörten ferner eine Prozessionsstraße und ein großer Tempel mit Eingangspylon. Verwirklicht wurde davon nur noch das Tor im ersten Pylon.
Fortgeführt wurde das Bauprogramm erst unter den Ptolemäern, vorwiegend unter Ptolemäus II. Philadelphos und Ptolemäus III. Euergetes I., denen wir vor allem den Isis-Tempel mit seinen beiden mächtigen, 20 und 13m hohen Pylonen, den Vorhof und den Pronaoshof hinter dem zweiten Pylon verdanken. Hier sind auf architektonisch interessante Weise Vorhof, Pronaos und Hypostyl in einer Raumeinheit kombiniert. Die Kompositkapitell-Säulen und die Decken prangten noch im vergangenen Jahrhundert im blau-grün-roten Farbenschmuck. In der Leichtigkeit und Eleganz der Proportionen glaubt man Einflüsse des Hellenismus zu verspüren.
[Abb. N89] Längsschnitt durch den Isis-Tempel
Das Geburtshaus ist ein schönes, vollständig erhaltenes Beispiel eines Mammisi. Sein dreiräumiges Sanktuar ist allseitig von einem höheren Säulenumgang umgeben, der wie ein Baldachin das schützende Dach über dem Sanktuar trägt (Zeit Ptolemäus' VIII. Euergetes' II.). Die Darstellungen am westlichen (linken) Turm des 1. Pylon stammen von Ptolemäus' XII.
In der Römerzeit wurde die Isis-Insel wegen der nun internationalen Beliebtheit des Isis-Kultes, aber wohl vor allem auch wegen Philaes Bedeutung an der Schwelle Nubiens mit weiteren Denkmälern bedacht. Unter Augustus wurden die beiden langen, die Prozessionsstraße flankierenden Säulenkolonnaden errichtet, vor allem aber der berühmte, meist Trajan zugeschriebene Kiosk am Ostufer der Insel, mit dem eine Ost-West-Prozessionsachse zum Haupttempel geschaffen werden sollte. Im Nordosten der Insel, dem Abaton gegenüber (der heiligen Insel mit dem Hauptgrab des Osiris), wurde noch unter Kaiser Hadrian ein monumentales Tor mit einem Treppenaufgang vom Nil errichtet. Die Tempel waren dicht umstanden von den Ziegelgebäuden für die Unterbringung des Kultpersonals und der aus allen Gegenden des Nahen Ostens anreisenden Pilger.
Im Heiligtum wurde ein durch Größe und Buntheit ausgezeichneter Falke als Abbild der Seele des Horus und des Re verehrt. Er soll aus Äthiopien eingeflogen sein. Strabo berichtet über ihn (Geographie 17. 1. 49): "Hier wird auch ein Vogel in Ehren gehalten, den sie einen Falken nennen, wenngleich er mir nicht im geringsten wie die Falken in unserem Lande erschien und sowohl größer als auch ganz anders in der Buntheit des Gefieders war. Sie sagen, es sei ein äthiopischer Vogel und dass ein neuer aus Äthiopien gebracht wird, wenn immer oder bevor der vorhandene stirbt. Und tatsächlich war der Vogel, den man uns zeigte, todkrank." Zur Blütezeit des Isis-Kultes, die in ptolemäischer Zeit einsetzte, beherrschte die Priesterschaft von Philae aus das Zwölfmeilenland als eine Art Gottesstaat und verstand es, in einer Pufferzone zwischen dem meroitischen und ptolemäischen Reich eine gewisse Unabhängigkeit zu behaupten und beide Parteien zu Stiftungen zu veranlassen. Dank der privilegierten Stellung Philaes konnte sich der Isis-Kult' noch lange nach der offiziellen Einführung des christlichen Kultes (391 n. Chr.) halten. Erst unter Kaiser Justinian wurden 536 die letzten Tempel geschlossen und ihre Statuen nach Konstantinopel übergeführt.
Die letzte datierbare Hieroglypheninschrift Ägyptens überhaupt, am Hadraian Tor, datiert aus dem Jahr 394 n. Chr.. Die letzte demotische Inschrift, am Eingang zu Osiriszimmer, stammt aus dem Jahr 452. n. Chr. Danach breitete sich eine christliche Siedlung über die Insel aus.
Literatur: D. Arnold, Die Tempel Ägyptens (1996) in: 91-93; Günther Hölbl, Altägypten im Römischen Reich in 40 - 98; Description, Bd. I, Taf. 1-29; Prisse d'Avennes, Hisloire de l'art egyptien, Bd. l (Paris 1878) Taf. 24/25, 27, 47, 58-60; H. B. Lyons, A Report an the Island and Temples of Philae (Kairo 1908); E. Winter, Philae, in: Textes et Langages (Kairo 1972) 229-237; W. Macquitty, Island of Isis. Philae Temple of the Nite (London 1976); William Y. Adams, Nubia Corridor to Africa (London 1977) 336-338; A. Giammarusti e Roccati, File. Storia e vita di un santuario egizio (Novara 1980); G. Haeny, A short anhitectural history of Philae, in: BIFAO85 (1985) 197-233; Eleni Vassilika, Ptolemaic Philae (Löwen 1989); Lexicon der Ägyptologie (1975) in: 1022 - 1026.
[Abb. N90] Plan des Isis-Tempels inklusive der Kollonaden.