Nubien

Geschichte

Nubien, der "Korridor Afrikas", spielt von der pharaonischen bis in die römische Zeit eine wichtige Rolle als Handelsroute zu den Ländern am oberen Nil und Ausgangsbasis zu den Goldminen der Ostwüste. Der Stromverlauf wurde daher vom Mittleren Reich bis in die Römerzeit durch die Herrscher Ägyptens von Assuan bis hinauf zum Zweiten Katarakt durch feste Handelsplätze und Burgen gesichert. Innerhalb, aber auch außerhalb solcher Plätze entstanden im Verlauf der zweitausendjährigen ägyptischen Herrschaft zahlreiche Tempelbauten. Eine bedeutende Serie von Tempeln wurde in der zweiten Hälfte der 18. Dynastie am oberen Nil jenseits des Zweiten Kataraktes errichtet. Ein weitaus größeres Bauprogramm wurde in der glorreichen Regierungszeit Ramses' II. ausgeführt. Seine zehn Tempel südlich Assuans folgen dem in dieser Zeit üblichen Schema der Grundrisse und sind regelmäßig einer bestimmten Gruppe der ägyptischen "Reichsgötter" geweiht, unter denen der vergöttlichte König herausragt. Die einheimische Götterwelt erscheint dagegen nur am Rande. Nach einer Unterbrechung von 500 Jahren erlebte Unternubien erst wieder in der ptolemäisch-augusteischen Zeit eine vergleichbare Blüte des Tempelbaus. Während der Schwerpunkt der Pharaonischen Bauten im südlichen Unternubien und in Obernubien (Sudan) lag, sind die Tempel der ptolemäisch-römischen Zeit auf den Raum zwischen Assuan und El-Maharraqa (dem so genannten Dodekaschoinos, dem Zwölfmeilenland) beschränkt. Denn das Ptolemäer- und Römerreich erstreckte sich nicht weiter südlich als El-Maharraqa, 113 Kilometer südlich von Assuan. Zweifellos sind diese Tempelbauten Zeugen jener Vormachtstellung der Göttin Isis von Philae und ihrer Priesterschaft, die ab der griechischen Zeit von Philae aus das politische und religiöse Leben Unternubiens beherrschte. Man nimmt daher an, dass alle diese Tempel eigentlich Isis-Tempel gewesen sind, auch wenn dies im Bildprogramm nicht immer deutlich zum Ausdruck kommt.

Architektur

Dadurch, dass der Nil sehr oft dicht an den Felsabbrüchen der Wüste vorüberfliest, war der Baugrund für einen Tempelbezirk begrenzt. Große, von monumentalen Ziegelumwallungen geschützte Tempelbezirke sind daher in Unternubien selten. Heiligtümer wurden dagegen oft mit der Rückwand gegen die Felswand gelehnt oder die Innenräume sogar m den Felsen verlegt. Die Front des Tempelhauses wurde mit einem dem Nil zugewandten Pronaos oder Pylon abgeschlossen, von dem aus Stichmauern zur Felswand führten und damit einen heiligen Bezirk schufen.

Frühe Reisende und der Staudamm

Unternubien und seine Tempel übten bereits im vergangenen Jahrhundert eine besondere Faszination auf Archäologen wie Reisende aus. Die begeisterte Schilderung des Schweizer Reisenden Johann L. Burckhardt (1814-1817) und die prachtvollen Aufnahmen und Darstellungen von Francois Gau (1819), Giovanni Belzoni (1820), Frederick Catherwood (1824), Joseph Bonomi (1829), David Roberts (1838), Hector Horeau (1839), Richard Lepsius (1843) und vieler anderer sind Zeugen dieser damals noch unberührten Traumwelt. Der erste verheerende Eingriff erfolgte 1898-1902 durch die Errichtung des ersten Staudammes von Assuan und seine nachfolgenden Erhöhungen (1907-1912 und 1929-1934), wodurch Teile des Landes und seine Tempel jeweils mehrere Monate unter Wasser gesetzt wurden. Die endgültige Zerstörung dieser einzigartigen Kulturlandschaft erfolgte ab 1960. In jenen von Skrupeln der Umwelterhaltung noch wenig berührten Jahren wurde Nubien der ägyptischen Bewässerungswirtschaft, vor allem aber den propagandistischen Interessen Gamal Abdel Nassers geopfert. Das Land wurde bis weit über den Zweiten Katarakt hinaus permanent überflutet. Einer internationalen, von der UNESCO koordinierten Rettungskampagne ist es zu verdanken, dass in den folgenden fünfzehn Jahren zahlreiche Ausgrabungen unternommen und wenigstens die wichtigsten Baudenkmäler auf höher gelegene Ufer gerettet werden konnten. Fünf der bedrohten Bauten wurden ins Ausland verlegt und in Madrid, Turin, Leiden, Berlin und New York ganz oder teilweise wiedererrichtet. Die übrigen Bauten wurden im Sudan National Museum in Khanum (Semna-Ost, Kumma, Buhen, Akscha), in Neu-Amada (Amada, Derr), bei Wadi es-Sebu'a, Dakka, Maharraqa) und am Khor Ingi, südlich von Assuan (Kalabscha, Qertassi und Beit el-Wali), wiedererrichtet. Diese Aktivitäten bewirkten immerhin, dass das ehemalige Unternubien als eine archäologisch gründlich untersuchte Landschaft gelten kann. Die weiter im Süden, oberhalb des Zweiten Kataraktes gelegenen archäologischen Stätten blieben trotz wichtiger archäologischer Unternehmungen, wie zum Beispiel der Harvard-Boston-Expedition, wenig bekannt und sind auch heute noch nicht ausreichend erforscht.

Literatur: D. Arnold, Die Tempel Ägyptens (Zürich 1996); Francois Ch. Gau Antiquités de la Nubie (Stuttgart 1822); G. Maspero, Rapports relatifsà la consolidation des temples. Les temples immergés (Kairo 1911); ders., Documents sur l'état des monuments. Les temples immergés; A. Weigall, A Report on the Antiquities of Lower Nubia (Kairo 1907); Christiane Desroches-Noblecourt. Temples de Nubie (Paris 1961); Georg Gester, Goldland am Nil (Zürich und Stuttgart 1964); S, Curto. Nubien, Geschichte einer rätselhaften Kultur (Novara 1966); W. A. Adams, Nubia: Corridor to Afrika (London 1978): W, Hinkel, Tempel ziehen um (Leipzig 1966); ders., Auszug aus Nubien (Berlin 1977); J. Jacquet, Observations sur l'évolution architecturale des temples rupestres, in: Nubie (Kairo 1966) 69-91; Torgny Säve-Söderbergh, Templesand Tombs of Ancient Nubia (UNESCO 1987); Irmgard Hein, Die ramessidische Bautätigkeit in Nubien (Göttinger Orientforschung, Reihe IV: Ägypten 21. Wiesbaden 1991).